Zur Einführung
Ein Gespräch von Luise Thuss/Autorin mit der Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922-2003), mit Texten von Sufi-Meistern, stattgefunden am 7.7.1999 im DLF und ist leicht gekürzt.
Sufis nennen sich die islamischen Mystiker. Die Bezeichnung geht wahrscheinlich auf das Asketengewand aus Wolle - Suf - zurück, das die ersten mystischen Gottessucher trugen. Die Anfänge des Sufismus reichen bis in die Frühzeit des Islam zurück. Zu den Sufis gehörten weltfeindliche Asketen und Schöpfer komplizierter theosophischer Systeme, strenge Prediger der Reue und begnadete Dichter, die zur Entwicklung der islamischen Sprachen, Literaturen und Künste beitrugen. "Den Geschmack des Honigs kann man nicht beschreiben.“ - Der Versuch einer Annäherung an den Sufismus.
Sprecher:
Das Wasser zu kennen, löscht den Durst nicht. Du musst es trinken. Sufitum heißt gehen, sehen, erleben. Nicht reden. Mystische Erfahrung verweigert sich dem Wort. Wissen Sie, das ist so was Ähnliches, als wollte man verbal jemand mitteilen, wie der Geschmack des Honig ist. Sie müssen schwimmen, und ich muss schwimmen, und ich werde dann Dinge empfinden, über die man nicht unbedingt sprechen kann, weil einem die Worte fehlen, weil einem die Ausdruckskraft fehlt, und vielleicht, weil es viel zu stark, viel zu überwältigend ist, um es in Worte zu fassen.
Autorin:
"Worte bleiben an der Küste", sagen die Sufis. Zwar haben islamische Mystiker ihre Erfahrungen in unzähligen Gedichten und Schriften mitgeteilt, nach denen man die auf Erkenntnis Gottes zielende Mystik und die Liebesmystik der völligen Hingabe an Gott unterscheidet, doch letztlich ist der mystische Pfad ein ganz persönlicher Weg. Deshalb, so die Orientalistin Annemarie Schimmel, gibt es unendlich viele Erklärungen, was Sufismus eigentlich ist.
Annemarie Schimmel:
Jeder hat seine eigene Version, aber ich denke immer gern an eine Erfahrung, die ich in Südindien gemacht habe. Ein alter Sufimeister hatte uns zum Tee eingeladen, und als wir natürlich nach Sufismus fragten, da hat er uns daran erinnert, dass es eine Tradition vom Propheten Mohammed gibt, dass eben der Engel Gabriel erschien und ihm die drei Stufen des Glaubens darlegte: Islam, Iman und Ichsan. Islam, so erklärte uns der Sufimeister dann, Islam ist, dass man alle Werke des Islam tut, also Gebet, Fasten usw., alle Regeln einhält. Iman, Glaube ist, dass man an Gott, den Jüngsten Tag, die Propheten und die Bücher glaubt, wirklich von ganzem Herzen: Und Ichsan ist ein Wort, kommt vom Stamm " hassan - schön“ und bedeutet, dass man alles so schön wie möglich und so gut wie möglich tut, weil man immer wissen muss, dass Gott in jeder Minute, in jeder Sekunde gegenwärtig ist und sieht und hört, was man tut, denkt oder tun möchte, und deswegen ist Ichsan die Pflicht des Menschen, dass er sich ganz und gar auf diese göttliche Gegenwart konzentriere. Und das, sagte uns der Meister, ist wirklich der Sinn des Sufismus.
Autorin:
Die frühen Sufis waren strenge Asketen. Sie enthielten sich weitgehend des Schlafes, fasteten viel, gedachten beständig Gottes, beteten und weinten aus Angst vor der Hölle. Doch dann erschien Rabi'a von Basra, eine freigelassene Sklavin, die von dem Gedanken der reinen Gottesliebe erfüllt war.
Annemarie Schimmel:
Basra war ein Zentrum der Askese im 8. und 9. Jahrhundert, und viele Menschen kennen die Geschichte, dass man sie eines Tages in den Straßen von Basra sah, sie trug eine Fackel in der einen Hand und einen Eimer Wasser in der anderen Hand, und als man sie fragte, was sie tun wolle, sagte sie: Ich will Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbete sondern allein um seiner ewigen Schönheit willen. Und diese Geschichte gilt gewissermaßen als Beginn des echten Sufismus, weil da kein Lohn- und Strafgedanke ist, sondern einfach der Wunsch, Gott zu lieben.
Sprecher:
Niemals steigt und niemals sinkt die Sonne,
ohne dass nach Dir der Sinn mir stände,
nie sitz mit den Leuten ich zu sprechen,
ohne dass mein Wort Du wärst am Ende.
Keinen Becher Wasser trink ich dürstend,
ohne dass Dein Bild im Glas ich fände.
Keinen Hauch tu' ich, betrübt noch fröhlich,
dem sich Dein Gedenken nicht verbände.
(Husain ibn Mansur Al-Halladj)
Autorin:
Al-Halladj wird von den Sufis bis heute als "Märtyrer der Gottesliebe" verehrt. Er starb im Jahre 922 am Galgen. Überliefert ist sein ekstatischer Ausruf.
Sprecher:
Ich bin die absolute Wahrheit.
Autorin:
Eine solche Verschmelzung eines Menschen mit dem Göttlichen musste den traditionellen Rechts- und Korangelehrten als Ketzerei erscheinen. Gott, so erklärt Baschir Dultz, Shaikh des Safinah-Ordens, ist für die Sufis sowohl transzendent wie immanent.
Baschir Dultz:
Wir sagen, dass Gott das Licht der Himmel und der Erden ist und dass jedes Wesen einen Funken dieses Lichtes in sich trägt. Es ist nicht: Gott ist alles, oder wir sind alle Gott, nein, der Schöpfer und die Schöpfung sind getrennte Dinge, aber wir haben einen Teil dieses göttlichen Lichtes in uns, und je transparenter dieser Funken wird, um so sicherer wissen wir, ob wir auf dem für uns richtigen Wege sind oder nicht.
Autorin:
Der mystische Pfad wird manchmal als Leiter beschreiben, als eine zum Himmel führende Treppe, auf der ein Sufi langsam und geduldig immer höheren Erfahrungsebenen zustrebt. Sie werden unterschiedlich definiert: Reue und Armut, Furcht und Freude, Hoffnung und Gottvertrauen. Nach einer langen Zeit der Reinigung kann er mit Liebe und innerer Erkenntnis begnadet werden und vielleicht das letzte Ziel allen mystischen Suchens erreichen: die unio mystica. Erfahren wird sie als Liebeseinigung oder das intuitive Erkennen der letzten Wirklichkeit. Um dahin zu gelangen braucht der Gottessucher einen Führer, einen Shaikh, der ihn vom ersten Schritt an begleitet.
Annemarie Schimmel:
Der Sufismus ist ein harter Weg. Man muss bei einem Meister sich verpflichten, diesen Weg zu gehen. Das geschieht durch Handschlag, und dieser Handschlag geht durch die Generationen zurück und führt bis zum Propheten Mohammed, und dann muss der erste Schritt sein, dass man bereut, dass man die Umkehr, die Metanoia beginnt, dass man sich von seinen bisherigen Lebensformen abwendet. Das braucht gar nicht äußerlich zu sein, aber geistig.
Autorin:
Um die 70.000 Schleier der Unwissenheit aufzuheben, die nach dem Verständnis der Sufis die wesenhafte Identität zwischen Gott und seinen Geschöpfen verhüllt, muss der Suchende "den Spiegel seines Herzens reinigen", in dem der Schöpfer sich in seiner ganzen Schönheit zeigt Dies gelingt durch den beständigen Kampf gegen die Nafs, wie die innere Triebseele genannt wird, und durch die allmähliche Lösung aus den Bezügen zur Welt. Immer wieder findet man Berichte über die reinigende Wirkung der Shilla, der vierzigtägigen Klausur, in die der Schüler sich mit einem Minimum an Essen und Trinken aus der Welt zurückzieht, um sich in einem abgeschlossenen Raum allein mit dem Koran und dem Gottgedenken zu beschäftigen. Abdullah Halis Dornbrach, Shaikh des Mevlevi-Ordens:
Abdullah Halis Dornbrach:
Gedanken, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens hat, Energiestrukturen, die der Mensch aufbaut, Wünsche, all das tragen wir mit uns herum. Und so füllen wir das physische, das psychische Gefäß mit Wünschen, mit Vorstellungen. Und dann haben sie diese Übungen, Sie begeben sich in eine Art Zurückgezogenheit, und Ihre Gedankenbilder fangen sich an zu manifestieren. Sie werden für Sie erfahrbar, sie werden für Sie erlebbar sie werden für sie greifbar Und sie werden auflösbar.
Autorin:
Der Mystiker beseitigt alles, was zwischen ihm und Gott liegt. "Stirb, bevor Du stirbst!“ lautet ein Prophetenwort. Nur wenn der Sufi seine menschlichen Eigenschaften ablegt, indem er Gottes Attribute annimmt, entwird er, wie es heißt, und kann somit in Gott aufgehen. Der Mystiker Junaid schrieb über diese durch Liebe bewirkte Verwandlung:
Sprecher:
Liebe ist die Vernichtung des Liebenden in seinen Attributen und die Bestätigung des Geliebten in seinem Wesen.
Autorin:
Gottes Wesen erschließt sich dem Sufi in der täglichen Meditation, durch die Verinnerlichung der im Koran genannten Namen Gottes.
Abdullah Halis Dornbrach:
Es gibt im Islam die 99 schönen Namen Gottes (wiederholt den Begriff arabisch) und diese 99 Namen, das sind die göttlichen Eigenschaften. Dazu gehört der Liebende, der Barmherzige, der Erbarmungsvolle, der Friedenspendende, der den Unterhalt Gewährende usw. Das sind alles Eigenschaften Gottes, die uns als Menschen auch inne sind, so dass wir über die Eigenschaften, die Gott hat, auch eine emotionale Beziehung herstellen können.
Baschir Dultz:
Wir sollen uns in den göttlichen Farben färben, wie es auch so schön heißt. Also wenn wir den Gottesnamen "Der Verzeihende" oder "Der Erbarmende" anrufen, dann sollen wir uns bewusst werden, was heißt verzeihen und erbarmen? Gehören wir zu den Verzeihenden und Erbarmenden? Wenn nicht, dann wird ein Manko bewusst, und es wird eine Übung daraus werden, es zu praktizieren, das heißt zu schwimmen.
Annemarie Schimmel:
Und es ist eine der wichtigsten Pflichten des Meisters, dass er dem Schüler den richtigen Namen zum Meditieren gibt. Manchmal sagen die Leute: Ach, welchen Namen soll ich denn meditieren, aber nur der Meister, der seinen Schüler wirklich gut kennt, also dessen Seele kennt, ist imstande, den richtigen Namen zu geben, denn es ist erwiesen, ich habe das selbst bei einer Freundin erlebt, dass, wenn man den falschen Namen wiederholt, man nicht nur seelisch krank wird, sondern auch körperlich krank werden kann.
Autorin:
Die Sufis sind sich darin einig, dass das Herz des Gläubigen "vom Gedenken Gottes durchduftet" sein soll. Es ist die geistige Speise des Mystikers. Die gemeinschaftliche Verinnerlichung der Namen Gottes geschieht im Zikr, dem rituellen Gottgedenken. Der Zikr ist zu jeder Zeit und an jedem Ort erlaubt. Man braucht sich nicht an die genau vorgeschriebenen Stunden des Ritualgebetes zu halten noch nach einem rituell reinen Platz zu suchen. Auch die Art der Anrufung variiert je nach Ordenstradition.
Baschir Dultz:
Mit Stimme laut oder nur im Herzen oder nur murmelnd, mit Körperbewegungen, mit tanzähnlichen Bewegungen oder stille sitzend, mit Instrumenten oder ohne Instrumenten, es gibt da die ganze Vielfalt der Anrufungen.
Nuriye Krieg-Dornbrach:
Im Zikr, im Gottesgedenken, da ist es einfach, dass man sich mit dem Hören, mit dem Verstand als auch mit dem Gefühl, mit dem ganzen Körper auf den Inhalt, auf die Schwingung, auf den Laut von diesem Namen, z.B. Allah als der allbekannteste Namen, einfach darauf einlässt, zuhört, fühlt, empfindet, sich auch in Bewegung reingibt, so dass das ganze Sein von diesem Begriff ausgefüllt wird.
Nuriye Krieg-Dornbrach:
Also z.B. Hay, der Lebendige, also wenn ich Hay sage und Hay fühle und Hay denke, dann ist das Lebendige nicht nur auf der Ebene des Empfindens oder des Gefühls in mir, sondern ich habe auch im Verstand einen Begriff von lebendig " dabei.
Autorin:
Nuriye Krieg-Dornbrach, die dem Mevlevi-Orden angehört. Die Orden entstanden erst im 12. Jahrhundert als feste Organisationsformen des mystischen Lebens. Heute gibt es weltweit über zweihundert. Jede Bruderschaft hat ihre eigenen Regeln. Deshalb nennt man sie Tariqa, Weg, Methode. Meister der Bruderschaft ist der Shaikh oder Pir. Aufgrund seiner Erfahrungen besitzt er eine große Ausstrahlungskraft und vermag seinen Schülern Baraka, geistlichen Segen zu vermitteln.
Annemarie Schimmel:
Es gibt nur wenige, die ihr ganzes Leben in der Nähe des Meisters bleiben, und da sich ganz und gar dem religiösen Leben widmen, aber der größte Teil der Anhänger, die den Treueschwur geleistet haben, das sind ganz normale Bürger, die dann zu den großen Festen zum Todestag des Namensheiligen oder zu sonstigen Festen in das Zentrum kommen und da 2-3 Tage verbringen, zusammen beten, Predigten hören usw. In Adjmir z.B. in Indien was ein ganz wichtiges Heiligenzentrum ist, da kommen Zehntausende von Menschen zum Heiligenfest, und das ist so wichtig, dass sogar die sonst geschlossene Grenze zwischen Pakistan und Indien in diesen Tagen für die Eisenbahn geöffnet wird.
Autorin:
Die Orden haben dazu beigetragen, dass der Sufismus eine Massenbewegung wurde, eine Bewegung, in der die hohen Ideale der klassischen Sufis allerdings ziemlich verdünnt wurden. Im volkstümlichen Islam werden Sufimeister wie Heilige verehrt, da man ihnen magische Fähigkeiten zuspricht. Noch grösser ist der Totenkult. Die Gräber der mystischen Führer sind überall in der islamischen Welt zu Heiligtümern geworden. Frauen mit Kinderwunsch binden kleine Wiegen an die Umzäunungen, Männer leisten Gelübde, um ihre Berufschancen zu verbessern, Schulkinder bitten um Beistand für das nächste Examen. Und alle hoffen auf die geistige Kraft des Heiligen.
Baschir Dultz:
Wir Shaikhs sind keine Ziele, sondern wir sind nur Wegweiser, aber für die große Masse der Menschen genügt es, sich im Schatten eines Wegweisers niederzulassen und das Gefühl zu haben, angekommen zu sein.
Autorin:
Die unangefochtene Autorität des Shaikhs hat teilweise zu einem gefährlichen Personenkult geführt. Muslimische Modernisten und Sufis sind sich einig in ihrer Kritik an der Heiligenverehrung und dem Pirismus.
Shaikh Abdullah Halis Dornbrach:
Wir haben im Islam so den Begriff des Shirk der Beigesellung, dass ich Gott etwas beigeselle, und diese Verhaltensweise, das geht für mich schon hart, hart an die Grenze des Shirk. Das ist mit dem Islam nicht zu vereinbaren, und das hat eigentlich auch mit dem Weg selbst nichts zu tun.
Autorin:
Sama, also Musik hören und tanzen, ist im Sufismus als Ausdruck mystischer Erlebnisse umstritten. Für den berühmten Dichter Dschalaluddin Rumi bedeutete Sama Nahrung der Seele. Rumi gilt als geistiger Vater des Ordens der MevIevi mit Hauptsitz in Konya, Türkei, die später als Tanzende Derwische bekannt wurden. Tausendundein Tag dauerte die traditionelle Ausbildung der Tanzenden Derwische. Die Anwärter verrichteten niedrigste Arbeiten im Konvent, studierten neben der Musik täglich Verse des „Mathnevi", des großen mystischen Gedichts Rumis und lernten vor allem jeden Tag etwas mehr das Drehen um die eigene Achse. Da seit der Säkularisierung der Türkei durch Präsident Kemal Atatürk im Jahre 1925 alle Orden und ihre Rituale verboten sind, wird der Reigen nur noch am 17. Dezember, dem Todestag Rumis gezeigt.
Annemarie Schimmel:
Der Reigen ist ganz genau aufgebaut. Es fängt an mit einem Preislied auf den Propheten, dann kommen die gegenseitige Begrüßungen, der Shaikh steht da und die Derwische gehen im Kreise herum und verbeugen sich, und man küsst sich gegenseitig die Hand, drei Mal, ganz langsam zu einer sehr schönen Musik, und dann werfen sie ihre schwarzen Kutten ab und erscheinen in ihren weißen Tanzgewändern, weiße, lange, weite Röcke und die Hände über der Brust zusammengelegt. Und während die Musik beginnt, öffnen sie die Hände, die rechte Hand tut sich nach oben auf, die linke nach unten, das heißt also, man empfängt den göttlichen Segen und reicht ihn an die Menschheit, an die Erde weiter.
Autorin:
Der immer schneller werdende Tanz ist ein kosmischer Reigen. Wie ein Staubkörnchen durch die Gravitation um die Sonne kreist, so kreist der Mensch um Gott. In der Sehnsucht nach dem Aufgehen im Göttlichen, die alle Sufis bewegt.